Die Stimmung im Iran ist so schlecht wie schon lang nicht. Die Bevölkerung sieht den heutigen Wahlen mutlos entgegen. Bei einem Sieg der Erzkonservativen rechnen viele mit einer Verschärfung des Alltagslebens.
So wenig Vertrauen in die Sinnhaftigkeit von Wahlen wie vor der Parlamentswahl am heutigen Freitag, hatte Irans Bevölkerung noch nie. Die Menschen sind verbittert und wütend auf das Regime, zunehmende Proteste werden brutal niedergeschlagen. Die fast 58 Millionen Iranerinnen und Iraner, die zur Wahl aufgerufen sind, stehen vor einem Dilemma: Sollen sie die wenigen zugelassenen Reformkandidaten und -kandidatinnen unterstützen oder die Wahl boykottieren? Was nützt den Menschen, die die Islamische Republik satt haben, innen- und außenpolitisch mehr?
Seit die USA im Mai 2018 das Atomabkommen einseitig aufgekündigt und die Sanktionen gegenüber dem Iran massiv verstärkt haben, hat sich die Situation im Iran drastisch verschlechtert. Ende November 2019, als die iranische Regierung wegen der katastrophalen Wirtschaftslage über Nacht die Treibstoffpreise massiv erhöhte, begannen landesweite zivile Proteste, die brutal niedergeschlagen wurden. Nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters sind bei diesen Protesten mindestens 1500 Menschen, überwiegend Jugendliche, getötet und Tausende verhaftet worden.
Zuletzt eskalierte der Konflikt zwischen Teheran und Washington, nachdem die USA den iranischen General Qasem Soleimani am 3. Jänner im Irak gezielt getötet hatten. Danach folgten iranische Vergeltungsschläge gegen US-amerikanische Ziele im Irak und am 8. Jänner der verheerende Abschuss des ukrainischen Zivilflugzeugs durch iranische Raketen in der Nähe von Teheran mit 176 Toten, die meisten von ihnen junge Iraner und ihre Familien, die während der Feiertage auf Heimatbesuch waren. Dies führte erneut zu Demonstrationen und zu wachsender Kritik am islamischen Regime.
Damit steht 41 Jahre nach der Islamischen Revolution der Iranmassiv unter Druck. Wachsender innerer Widerstand, internationale Isolation und akute Kriegsgefahr prägen die Stimmung im Land. Die bevorstehenden Wahlen zur 11. Legislaturperiode des iranischen Parlaments könnten die Legitimität des Systems und damit die Position des religiösen Führers Ayatollah Ali Khamenei und seines Machtapparats ernsthaft infrage stellen. Dabei haben gerade sie das aktuelle Wahl-Dilemma verursacht. Denn sie sind dafür verantwortlich, dass es – zumindest einigermaßen – freie Wahlen nicht gibt. Im Iran sind ein uneingeschränktes Bekenntnis zu den islamischen Vorschriften und bedingungslose Treue zum religiösen Führer Grundvoraussetzungen für alle, die bei den Wahlen kandidieren wollen.
Opposition undenkbar
Die Kandidatinnen und Kandidaten werden mehreren „Eignungsprüfungen“ durch verschiedene Geheimdienste, Justiz, Polizei und schließlich durch den Wächterrat, dem obersten Gremium zum Schutz der islamischen Verfassung – von Kritikern „islamisches Politbüro“ genannt –, unterzogen. Oppositionsparteien oder offen kritische Abgeordnete sind undenkbar. Zur Wahl stehen daher nur Kandidatinnen und Kandidaten der religiös-konservativen Hardliner und sogenannte reformorientierte Islamisten, von denen allerdings ein Großteil im Vorfeld abgelehnt wurde. Diesmal war der Ausschluss von möglichen Abgeordneten noch strenger als bei den letzten Wahlen. Der Wächterrat, der dem auf Lebenszeit berufenen religiösen Führer Khamenei ergeben ist, hat sogar jeden dritten der gegenwärtigen Abgeordneten von der Kandidatur ausgeschlossen. Dazu kommt, dass auch bisher das Parlament im Iran ohne Zustimmung von Staatsoberhaupt Khamenei kaum selbstständige Entscheidungen treffen konnte.
Wozu also überhaupt zur Wahl gehen, fragen sich immer mehr Iraner? Das Zitat von Mark Twain trifft es für viele: „Wenn Wahlen eine Bedeutung hätten, würde man uns nicht erlauben, sie abzuhalten.“ Die Menschen wissen, dass die Machthaber im Land nicht davor zurückschrecken, Wahlergebnisse zu manipulieren. Die Präsidentenwahlen 2009, bei denen trotz der Vorwürfe der Manipulation Mahmoud Ahmadinejad als offizieller Sieger mit absoluter Mehrheit erklärt wurde, hatten zu den größten Protesten seit der Revolution von 1979 geführt, die als „grüne Bewegung“ auch international große Beachtung fand. Seither ereigneten sich immer wieder Proteste, in kürzeren Intervallen und mit landesweitem Ausmaß. Die Opferzahl ist verheerend.
Die Bilanz der Jahre unter dem zu den Reformern zählenden Präsidenten Hassan Rohani ist ernüchternd: Die Menschenrechtslage hat sich signifikant verschlechtert und von der wirtschaftlichen Öffnung nach dem Atomdeal 2015 profitierten vor allem regimetreue Unternehmen und die dem religiösen Establishment nahestehende Elite. Die Politik der „autoritären Stabilität“ und der vom Ausland verfolgten Politik des „Wandels durch Handel“ haben es den Eliten ermöglicht, sich an der Bevölkerung vorbei zu bereichern. Durch die verschärften Sanktionen bekommen viele Menschen monatelang keinen Lohn und wissen nicht mehr, wie sie ihre Rechnungen bezahlen sollen. Bei den Protesten wird ganz offen der Sturz des Regimes gefordert. Obwohl die Demonstranten wissen, dass sie ihr Leben riskieren und politische Gefangene mit Folter und Misshandlungen zu rechnen haben, gehen sie auf die Straße. Sie protestieren, weil sie ein besseres Leben wollen.
Offene Türen zuschlagen
Wenn nun nach den Wahlen am Freitag die Erzkonservativen im neuen Parlament noch dominanter werden, ist damit zu rechnen, dass sich die bestehenden restriktiven Vorschriften im öffentlichen Leben verschärfen und das gewaltsame Vorgehen gegen die unzufriedene Bevölkerung zunehmen wird. Außenpolitisch ist zu befürchten, dass die Hardliner und Ablehner des durchlöcherten Atomdeals die Kriegsgefahr erhöhen und noch offene Türen – insbesondere zu Europa – zuschlagen. Das würde eigentlich dafürsprechen, doch die wenigen verbleibenden Reformer bei den Wahlen zu unterstützen. Aber die Erfahrungen der vergangenen 20 Jahre, seit der ersten Präsidentschaft von Mohammad Khatami, haben gezeigt, dass die Hoffnung auf grundlegende Reformen immer wieder enttäuscht wurde.
Wahlen sind aber dennoch nicht bedeutungslos, vor allem weil die Regierung die Höhe der Wahlbeteiligung als Indikator für die Zustimmung zur Islamischen Republik ausgibt. Die Hardliner, allen voran Ayatollah Khamenei, stecken derzeit in der tiefsten Krise seit 41 Jahren und sie fürchten sich vor einem Wahlboykott. Wie sonst wären die neuen Töne des religiösen Führers zu interpretieren, wenn er angesichts einer befürchteten geringen Wahlbeteiligung die Bevölkerung beschwört: „Auch wenn Sie mich nicht mögen, gehen Sie zur Wahl, da Sie ja Ihr Land Iran mögen.“ Dem halten Kritiker zu Recht entgegen, dass man, gerade weil man den Iran liebt, nicht zur Wahl gehen soll, damit die fehlende Legitimität des Regimes deutlich wird. Unter den gegebenen Umständen erscheint daher ein Wahlboykott das einzige wirksame politische Signal zu sein, damit ein spürbarer Wandel zu demokratischen Verhältnissen in Zukunft eine Chance hat.
Source : https://www.diepresse.com/5772358/irans-dilemma-vor-den-parlamentswahlen